Afrika gilt als Wiege der Menschheit – dass die ältesten Kunstwerke der Welt von der Schwäbischen Alb stammen, ist bislang eher wenig bekannt. Gefunden wurden sie in sechs Höhlen, die nun zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen.
Andächtig lauschen die Grundschüler den Klängen, die Gabriele Dalferth der aus Knochen geschnitzten Flöte entlockt. Musik, wie sie hier, in der Vogelherdhöhle auf der Schwäbischen Alb vermutlich schon vor gut 40 000 Jahren zu hören war. Dalferth, in eiszeitlich aussehender Kleidung, ist Guide im Archäopark bei Niederstotzingen. Dessen Herzstück, die Höhle, liegt gut versteckt in einem Hügel, mit bestem Blick über die umliegende Landschaft. Sicher ein Grund dafür, dass hier schon vor Zehntausenden von Jahren Menschen lebten. Vor Kurzem erst wurde in der Höhle das Fragment einer eiszeitlichen Flöte entdeckt – sie gilt als das älteste Musikinstrument der Welt. Und das ebenfalls hier ausgegrabene Mammut, eine wenige Zentimeter große, filigrane Schnitzfigur aus Elfenbein, ist das älteste vollständig erhaltene figürliche Kunstwerk der Menschheitsgeschichte.
Sechs Höhlen von Lone- und Achtal wurden 2017 ins UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen: die Vogelherdhöhle, der Hohlenstein-Stadel, die Bocksteinhöhle, das Geißenklösterle, die Sirgensteinhöhle und der Hohle Fels. In den Höhlen und ihrer Umgebung wurden mehr als 50 solcher Kunstwerke gefunden, die aus der letzten Eiszeit stammen und die nun als erste Zeugnisse künstlerischen Schaffens des modernen Menschen gelten. Es ist eine spannende Epoche: Der Cro-Magnon-Mensch kommt auf, der anatomisch moderne Mensch. Mit ihm bricht eine neue Kulturstufe des Menschen an, das Aurignacien – und sie beginnt hier, auf der Schwäbischen Alb.
Die Schwäbische Alb ist seinerzeit ein Korridor im Eis, zwischen den Gletschern, die von Süden bis fast hierher, im Norden bis südlich von Berlin reichen. Der Meeresspiegel liegt rund 100 Meter tiefer als heute. Aus Afrika ziehen die Menschen nach Norden. Entlang der Donau gelangen sie auch hierher. Hohe Bäume wie heute gibt es nicht, die Landschaft ist eine tundra-artige Steppe. Die Temperaturen liegen damals im Durchschnitt rund zehn Grad unter den heutigen. Neben den Mammuts streifen Höhlenlöwen und Höhlenbären umher, Wildpferde, Riesenhirsche und Schneehasen. Trotz der unwirtlichen Natur und der Gefahr durch Raubtiere ist das Überleben dank des reichlichen Nahrungsangebots gesichert. Und wenn nach einer erfolgreichen Jagd die Wintervorräte aufgefüllt sind, kommt in der warmen Höhle auch mal Langeweile auf: Zeit, kreativ zu werden. „Kunst kann nur entstehen, wenn es den Menschen gut geht“, meint Hermann Mader, Vorsitzender des Fördervereins Eiszeitkunst im Lonetal – er nennt es den „kulturellen Urknall“, der hier stattgefunden hat.
Erforscht werden die Höhlen der Schwäbischen Alb seit den 1860er-Jahren, einer der spektakulärsten Funde wurde 1939 im Hohlenstein-Stadel gemacht: die Mammut-Elfenbein-Bruchstücke des Löwenmenschen, aus denen die Figur später rekonstruiert werden konnte. Im Laufe der Jahre haben sich die wissenschaftlichen Methoden verfeinert. Das heißt vor allem: Es wurde systematischer und gründlicher gegraben, die Arbeiten nahmen ein Vielfaches an Zeit in Anspruch, dafür wurde aber weniger übersehen. Auch der bei den frühen Grabungen aus den Höhlen gebuddelte Abraum wurde und wird systematisch untersucht – und oft kommen beim „Durchsieben“ noch weitere Puzzleteile ans Tageslicht.
Der Löwenmensch etwa wurde bis heute mehrmals neu rekonstruiert, zuletzt erst 2013. Denn zu den 260 Bruchstücken, die bei der Grabung 1939 entdeckt wurden, sind über die Jahre mehr als 50 weitere, oft winzig kleine Splitter hinzugekommen. Seit Anfang der 1990er-Jahre beschäftigt sich der Tübinger Archäologe Nicholas J. Conard mit der Frühgeschichte der Schwäbischen Alb. Bei Grabungsarbeiten unter seiner Leitung wurden weitere spektakuläre Funde gemacht: die Venus vom Hohle Fels und ein Höhlenlöwe, filigrane Kunstwerke aus Elfenbein. „Die älteste Kunst war gar nicht rudimentär, sondern hochwertig und extrem schön, auch an heutigen Standards gemessen“, meint Conard. Er vergleicht den damaligen Kultursprung mit Innovationsfeldern des 20. Jahrhunderts wie etwa der Computer- oder der Raumfahrttechnologie. Ist die Technik erst einmal erfunden, entwickelt sie sich rasch.
Im Video erzählen Archäologie-Professor Nicholas J. Conard und Hermann Mader, Vorsitzender des Fördervereins Eiszeitkunst, welchen Stellenwert die Funde für die Kulturgeschichte der Menschheit und die Region besitzen:
Das Mammut und der Höhlenlöwe sind im Archäopark Vogelherd, weitere eiszeitliche Artefakte im Landesmuseum Württemberg in Stuttgart, im Urgeschichtlichen Museum in Blaubeuren, im Museum Ulm sowie im Museum der Universität Tübingen zu sehen. Dass die Höhlen nun zum Weltkulturerbe ernannt wurden, zeigt ihre herausragende Bedeutung für die Menschheitsgeschichte. Geforscht wird weiter, denn noch immer sind nicht alle Geheimnisse der Höhlen auf der Schwäbischen Alb gelüftet.
Weitere Informationen zu den Höhlen und den Funden auf der Schwäbischen Alb findet ihr hier:
Im Archäopark Vogelherd bei Niederstrotzingen rund 30 Kilometer nordöstlich von Ulm können die Besucher nicht nur die Höhle und einige der dort entdeckten Figuren bestaunen, sondern auch erfahren, wie sich das Leben in der Eiszeit angefühlt hat.
Im Museum Alte Kulturen der Universität Tübingen, untergebracht im ehrwürdigen Schloss Hohentübingen nahe beim Tübinger Hauptbahnhof, sind neben den Funden aus der Eiszeit viele weitere beeindruckende Exponate aus der Kunst- und Kulturgeschichte der Menschheit zu sehen.