Es hätte ein ganz normaler Tag in Tokios Unterhaltungsviertel Shibuya werden können. Ich war gerade dabei, ein wenig durch die Gegend zu schlendern, den Kulturschock Japan zu verarbeiten und mich ein paar typischen Klischees anzunähern, als plötzlich diese junge unscheinbare Frau mit einem perfiden Plan vor mir steht:
In Tokio geht man nicht einfach nur essen. Man erlebt den Besuch im Restaurant. Das Spaß-Gefängnis »The Lockup« ist nur eines von zahlreichen gastronomischen Highlights in Japans Hauptstadt, bei denen dem Gast der Magen umgedreht wird, bevor man ihn füllt.
»Vielleicht liegt es an unserem strikten, disziplinierten Alltag, dass wir in der Freizeit extremer als andere unterhalten werden wollen«, sagt Chika und bestellt uns Pasta mit essbaren Augäpfeln und Selbstmordkapseln.
Was ich im ersten Moment als scharf identifiziere, entpuppt sich in Wahrheit als hochprozentiger Alkohol, der beim Draufbeißen aus der Kapsel rinnt. Ein Besuch in "The Lockup" ist ein Spiel mit den (Geschmacks-)Nerven. Das servierte Essen schmeckt gut, steht aber natürlich überhaupt nicht im Vordergrund. Dieses Restaurant ist Entertainment.
Immer wieder wird es stockfinster und die laute Sirene ertönt. Bewaffnete Männer mit Horrorfilmmasken simulieren einen Gefängnisausbruch. Während sie umherirren und mit Platzpatronen um sich schießen, hört man aus den hinteren Zellen die lauten Schreie anderer Gäste. Mein Blick wandert zu Chika, doch ich sehe sie nicht mehr. Sie hat sich aus unserem Tisch und ihrer Handtasche eine Barrikade gebaut.
Sicher ist sicher.
Wie viele Entertainment-Locations liegt auch »The Lockup« mitten in Shibuya, wo eines der Herzen der 35-Millionen-Metropole schlägt. Wer sich nur mal eine halbe Stunde in den ersten Stock von »Starbucks« an der berühmten Straßenkreuzung setzt, kann als einflussloser Beobachter das energiegeladene Cityleben auf sich wirken lassen: Erst schießen bunte Busse, Taxen und LKW am Fuße der LED-blinkenden Häuserfront vorbei. Und dann plötzlich, als würde jemand den Schalter umlegen, halten die Fahrzeuge an, und aus zehn verschiedenen Richtungen strömen Tausende von Menschen von A nach B nach C nach D. Ein faszinierender Schmelztiegel aus Chaos und Ordnung.